Alle Jahre wieder und vermehrt zum Schuljahresende hörte man von den Lehrern und auch von den eigenen Eltern immer und immer wieder diesen einen Satz: „Wenn du gute Noten hast, steht dir nach der Schule die ganze Welt offen“. Oft genug gesagt, glaubt man daran, eine bewusste oder unbewusste und natürlich nur gut gemeinte Gehirnwäsche. „Die offene Welt“ eine herrliche und gleichzeitig unwirkliche Vorstellung. Was heißt das eigentlich: „Die Welt steht uns Jugendlichen offen“ und vor allem, will ich das?
Das bin ich
Ich war schon immer ein „Heimscheißer“ und Muttersöhnchen. Ich fand und finde nichts Schlimmes dabei, im Gegenteil. Für mich bedeutet es, dass man weiß, wo man hingehört, eine schöne Kindheit hatte und ein Familienmensch ist. Eine heile Welt, die es heute nur noch selten gibt, außer vielleicht in irgendwelchen Rosamunde Pilcher Filmen. Wohl behütet aufgewachsen mit Vater, Mutter und Großeltern. Warum sollte ich weggehen, wenn es mir doch hier am besten gefällt.
Ich glaubte und bin auch immer noch der Meinung, dass ich schon immer anders war, als andere Kinder. Nicht schlechter, nicht besser, einfach nur anders.
Das sind die anderen
In der 10. Klasse waren wir in Leipzig, eine Art Klassenfahrt. Die Klasse war aufgeteilt in verschiedene Gruppen, jeweils ohne Lehrer. Es war Sommer und sehr heiß, als ein Mitschüler ein Cabrio mit offenem Verdeck vor uns gesehen hatte. Schnell war ihm klar, dass sein Kaugummi, der eben noch in seinem Mund war, perfekt zu den Autositzen passen würde. Leider war er mit seiner Meinung nicht allein. Alle Kinder, die eine ebenfalls klebrige Masse in Ihrem Mund hatten, wollten auch das Auto und dessen Ledersitze „verschönern“ und somit bespucken. Kurze Zeit später klebten 5 Kaugummis auf dem Fahrer- und Beifahrersitz. Alle lachten und freuten sich über Ihre „Heldentat“. Ich selbst fragte mich, wie man sowas machen kann. Wie kann man nur so böse Gedanken haben und sich über das „Leid“ der anderen, selbst so freuen.
Ein anderer Schüler aus meiner Klasse, entwendete den Autoschlüssel seiner Eltern, um zusammen mit seinen Freunden eine Spritztour zu unternehmen. Wahrscheinlich um zu zeigen wie cool er ist. Natürlich ganz ohne Führerschein und mit dem Ausgang, dass er mit dem Firmenwagen des Vaters einen Unfall gebaut hatte. Wie uncool und einfach nur bescheuert.
Es geht aber noch verrückter. Ein Mitschüler brachte Handschellen mit in die Schule. Unsere Physiklehrerin, die seit Jahren nervlich anschlagen war, man merkte es Ihr tagtäglich an, wurde mit diesen Handschellen an einen Tisch gekettet. Aus Angst vor dem Schüler ließ sie es ohne große Gegenwehr zu. Alle mussten es mit anschauen, keiner sagte was, andere lachten. Ich glaube, in diesem Moment hatten viele Angst, genauso wie ich. Als die Lehrerin heulend und angekettet da unten hockte, sagte der Schüler, dass wir jetzt Pause haben und das Klassenzimmer verlassen können. Alle folgten sehr verhalten, aber dennoch zügig den Anweisungen des Schülers aus Angst, dass er vielleicht noch andere Dinge mit in die Schule gebracht hatte. Das Heulen und Schluchzen der Lehrerin habe ich bis heute nicht vergessen. Wenige Wochen später hat sie Ihren Lehrerposten aufgegeben, der „Täter“ durfte weiter in unserer Klasse lernen.
Die Bewerbungsphase
Nun gut, 10 Jahre Schule hatte ich nun hinter mir, die Prüfungen ebenfalls. Ich war kein 1er Schüler, aber zumindest wusste ich im Gegensatz zu anderen, für wen ich die letzten 10 Jahre gelernt habe, und zwar für mich und meine Zukunft.
Doch was macht man nun nach der Schule? Einen direkten und innigen Berufswunsch hatte ich nicht. Feuerwehrmann und Polizist standen für mich nie zur Debatte. Meine Hobbys bestanden aus Fahrradfahren, etwas draußen in der Natur machen oder „Akte X“ schauen, nicht zu verwechseln mit „Akte XY ungelöst“. Aus diesem Verbund von Freizeitaktivitäten erschloss sich für mich aber nicht direkt ein Berufswunsch. Also streute ich meine Bewerbungen in verschiedene Richtungen. Kaufmann im Einzelhandel, KFZ Mechaniker, Bürokaufmann, Gas-Wasser-Installateur, alles war dabei. Natürlich alles im Umkreis, damit der kleine „Heimscheißer“ nicht zu weit weg von Mutti und Vati ist.
Alles in allem hatte ich um die 50 Bewerbungen geschrieben um einen Ausbildungsplatz zu ergattern. Es sollte ja kein Problem sein, einen guten Job zu bekommen, die Welt steht uns jungen Erdenbürgern ja offen. Als die ersten Absagen kamen, wunderte ich mich, machte mir aber keine großen Gedanken. Es waren ja noch viele offen und im Umlauf.
Der Buschfunk zwischen uns Schülern funktionierte aber auch damals schon recht gut. Die Elite-Schüler aus meiner Klasse hatten natürlich schon längst Ihre Ausbildungsplätze in Sack und Tüten, aber das war ja klar. Die nächsten Tage und Wochen gingen ins Land und es verging kein Tag an dem ein weiterer, dicker A4 Umschlag den Briefkasten zierte. So langsam aber sicher machte sich Unmut breit. Lag es an meinen Noten? Lag es an mir oder an meinen Bewerbungen? Irgendwann begann ich zu grübeln und zu zweifeln.
Nach und nach hatte sogar der Kaugummispucker, der Schwarzfahrer und der Handschellenjunge einen Ausbildungsplatz sicher, nur ich nicht. Irgendwann beginnt man dann doch sein bisheriges Leben zu hinterfragen. Ist es falsch „normal“ zu sein? Was ist eigentlich normal? Was ist richtig oder was ist falsch? Was wäre gewesen, wenn ich auch alles das gemacht hätte, was die anderen taten. Ich wäre jetzt sicherlich ein anderer Mensch. Aber hätte mich das an diesem Punkt weitergebracht?
Hätte hätte Fahrradkette…
Ich bin nun mal so wie ich bin, alles was geschehen ist, kann ich nicht rückgängig machen. Nur für die Zukunft kann ich aus dem bisherigen Schlüsse ziehen und mich gegebenenfalls ändern.
Ein Tag ohne dicken A4 Umschlag mit einer Absage war wie eine Wohltat. Ich hoffte so auf einen kleinen Umschlag, mit meinem Namen darauf. Und genau der kam auch, genau gesagt 2. 2 kleine unscheinbare Umschläge, die mein Leben verändern könnten.
In dem einen befand sich ein Termin für ein Vorstellungsgespräch bei einer KFZ Firma, beworben hatte ich mich dort für eine Bürostelle, genauer gesagt als Bürokaufmann.
In dem anderen Umschlag war ebenfalls ein Brief mit der Bitte, mich persönlich vorzustellen. Also auch ein Vorstellungsgespräch. Hier hatte ich mich als Kaufmann im Einzelhandel in einer großen Warenhauskette in meiner Heimatstadt Döbeln beworben.
Ich war so aufgeregt. Ich wusste nicht, was in diesen Gesprächen von mir verlangt wurde. Kann ich alle Fragen beantworten? Bin ich so, wie sich die Firma einen zukünftigen Lehrling vorstellt?
Zuerst war ich in der KFZ Firma, ein sehr netter Chef, der mir Kaffee und Kuchen angeboten hat. Es war ein sehr lockeres Gespräch. Ich war erleichtert. Wir kommunizierten, als würden wir uns schon länger kennen. Als der Geschäftsführer dann ins Detail ging und er mir mitteilte, dass die Ausbildung in Heilbronn erfolgen würde, kam das Muttersöhnchen in mir durch. Für mich stand fest, dass diese Stelle nichts für mich ist. Natürlich sagte ich ihm das nicht und ließ ihn vorerst im Glauben, ich hätte Interesse. Ich wusste, ich habe noch einen weiteren Vorstellungstermin.
Dieser war einen Tag später. Der Empfang hier war eher förmlich, kühl aber professionell und/aber nett. Der Filialleiter wollte mich kennenlernen und sehen, ob ich in die nächste Runde kommen kann. Beworben hatten sich nach seiner Aussage 200 Arbeitswillige. Das war ein Schock, warum sollte ich DER EINE von 200 Leuten sein, das ist ähnlich wie ein Lottogewinn.
Wir melden uns…
Wir melden uns bei Ihnen, sagte der Filialleiter und begleitete mich nach dem Gespräch aus seinem Büro. Vor der Tür stand bereits der nächste vorzustellende. Ein junger Mensch, etwas älter als ich, gekleidet, mit Sakko und in der Hand eine Aktentasche. Das war das Aus für mich, sagte ich mir, hier kann ich nicht mithalten. Ich selbst war an dem Tag ordentlich aber leger angezogen.
Etwa eine Woche später rief mich der Chef der KFZ Firma an und fragte mich, wie ich mich entschieden habe. Ich versuchte auszuweichen und ihn zu vertrösten. Ich merkte schnell, dass er mich haben will oder einfach niemanden anderes findet für eine Ausbildung in Heilbronn.
Gleichzeitig bekam ich Post von der Warenhauskette: „Wir möchten Sie hiermit zum 1. Einstellungstest einladen“. Schön dachte ich mir, aber was heißt zum 1. Einstellungstest? Gibt es da noch mehr? Oh mein Gott!
Den ersten Test hatte ich hinter mir, ich hatte kein gutes Gefühl. Dennoch kam kurze Zeit später die Einladung zum nächsten und alles entscheidenden Test. Auch bei diesem hatte ich persönlich nicht den Eindruck als wäre ich einer der besten, aber schlussendlich mussten das andere entscheiden.
Die kommenden Tage waren schrecklich, diese Ungewissheit, dieses Warten. Hier ging es um meine Zukunft und für mich persönlich um meine Ehre. Und dann war es endlich so weit. Ich bekam einen weiteren Brief, nüchtern geschrieben, ohne Zusage, ohne Absage. Einfach nur mit der Bitte mich nochmals in der Warenhauskette einzufinden. Der Filialleiter empfing mich mit ernster Miene, kräftigem Händedruck und den Worten „Herzlichen Glückwunsch Herr Schär, Sie haben Ihren Ausbildungsplatz als Kaufmann im Einzelhandel für die nächsten 3 Jahre bei uns“. Das erste und dümmste, was ich darauf geantwortet habe, war: „das muss ein Fehler sein“. Mein zukünftiger Chef lachte und sagte: „Das ist es nicht, wir haben uns für Sie entschieden“
Somit war der nächste Abschnitt zum erwachsen werden zumindest vorübergehend geschafft. Ein gesichertes, wenn auch kleines Ausbildungsgehalt, Monat für Monat.
Dem netten Geschäftsführer der KFZ Firma konnte ich somit absagen, was ich dankend tat. Durch meine Absage rutschte der nächste Bewerber nach vorn, der diese Ausbildungsstelle auch angetreten hat. Es war ein Mitschüler aus meiner Klasse, der sich zwar hier in diesem Beitrag keinen Absatz sichern konnte, aber dennoch zu denen zählte, der den Lehrern das Leben nicht gerade leichtgemacht hat.
Ein paar Monate gingen ins Land, als ich von einem Kumpel erfuhr, dass der bereits erwähnte Handschellenjunge aus meiner Klasse bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Karma is a bitch
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