11: Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Lehrjahre sind keine Herrenjahre und andere Vorkommnisse. Vorab gesagt bezieht sich mein folgender Beitrag auf die längst vollzogene Verschmelzung zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten liegt in meinem Fall schon 6 Jahre zurück. Aus „Auferstanden aus Ruinen“ wurde das „Deutschlandlied“, aus der Mark wurde die Deutsche Mark. Aus dem Trabi ein Ford, aus Ferien im FDGB Heim wurde ein Urlaub in Bayern und aus dem kleinen, schüchternen Andreas ein etwas größerer, schüchterner Andreas. Mal schauen, ob auch für mich der so gern genutzte Spruch: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ zutrifft.

Aus der Schule in die Schule – nur anders

Wie bereits im Beitrag vorher beschrieben, beendete ich meine schulische „Karriere“ nach 10 Jahren mit bestandenen Prüfungen und dem Wissen, eine Lehrstelle zu haben. Jetzt noch die letzten 6 zusammenhängenden Wochen Sommerferien genießen, bevor es hinaus in die große, weite Welt des Einzelhandels geht. Ein vermeintlich letzter gemeinsamer Urlaub mit meinen Eltern irgendwo in Bayern sollte der krönende Abschluss meines kindlichen Lebens sein. Die letzten 10 Jahre vergingen wie im Flug und der vorerst letzte Urlaub noch viel schneller.

Gestern noch ein unselbstständiger Schüler, der von den Lehrern gesagt bekam, welches Tafelbild wichtig und somit mitzuschreiben ist, welche Mitschriften für welche Leistungskontrolle zu lernen sind und heute schon ein kleiner Erwachsener, der auf die große Welt und die Vielzahl an unterschiedlich tickenden Kunden losgelassen wird. Natürlich gab es auch in meiner Ausbildung einen schulischen Teil. Nur war mir bewusst, welche Dinge ich im Gegensatz zu den letzten Jahren anders machen werde. Ab sofort sollte für mich ein neuer Lebensabschnitt beginnen, mit Jugendlichen, die mich nicht kannten und auch nicht wussten, wie ich vorher war. Ich wollte nicht mehr der brave Schüler sein, der sich hinter seinen Schulbüchern und Heftern versteckte. Ich war 16 oder 17, als ich meine Lehre begonnen hatte und wusste, dass sich etwas ändern muss. Die Frage für mich war nur, ob ich es konnte.

Der erste Berufsschultag war dann irgendwann da. Viele neue Jugendliche zierten die langen Gänge der Schule. Die neuen Schüler, einschließlich ich, suchten ihr zukünftiges Klassenzimmer und einen Platz neben einer Person, die einem auf den ersten Blick sympathisch erschien oder einen Platznachbarn, den man bereits kannte. Genau so ging es mir auch. Ich verschaffte mir einen groben Überblick über die Gesichter meiner Klasse, schaute, wo noch ein Platz frei war und sah einen Mitschüler aus meiner ehemaligen Klasse.

Sven, ein sehr beliebter, extrem gutaussehender und durchtrainierter Lehrersohn. Wir schenkten uns die letzten Jahre keine große Aufmerksamkeit. Er spielte für mich in einer anderen Liga. Um es mit dem Thema Sport zu vergleichen war er für mich in der 1. Bundesliga und ich in der Kreisklasse. „Aber was soll’s?“, dachte ich mir. Neben ihm war noch ein Platz frei und ich kannte ihn, wenn auch nur vom „Hallo“ sagen. Außerdem bestand unsere Klasse fast ausschließlich aus jungen Mädels, ich zählte nur 3 männliche Schüler, einschließlich mir. Oh mein Gott, nur nicht auffallen, immer schön lieb sein, lächeln und keine Fehler machen. Und schon wieder war ich in meinem Teufelskreis, aus dem ich doch eigentlich entrinnen wollte.

Nein, nein, nein Andreas, du bleibst jetzt cool. Niemand kennt dich, außer Sven und mit dem werde ich schon „warm“ werden. Sven schaute mich mit seinen hochpolierten weißen Zähnen an, er wäre der perfekte Typ für eine Zahncreme-Werbung gewesen:

Wollen Sie auch strahlend weiße Zähne?
Dann nutzen Sie täglich das neue „Zahnweiß Schleifpapier“
Sie werden den Unterschied nicht nur sehen, sondern auch riechen.
Nach nur 14 Tagen können Sie sich Ihre Taschenlampe sparen,
denn Ihre weißen Zähne werden Ihnen den Weg weisen.

Nach seinem Lächeln unterhielten wir uns kurz. Es war ein reiner Smalltalk und ein kleines Kennenlerngespräch. Ich erzählte ihm, in welcher Firma ich meine Ausbildung begonnen habe und er erzählte mir, wo er die nächsten 3 Jahre durchstarten wird. Dabei zuckte sein gut ausgeprägter Bizeps und seine sonnengebräunte Haut glänzte im Licht, welches durch die großen Fenster des Klassenzimmers hineinschien. Vor ihm standen Reiswaffeln, gekochter Reis und klein geschnittenes Hühnchen und genauso fühlte ich mich neben ihm. 

Ich merkte schnell, dass er mit mir kein Problem hatte. Genauso wenig, wie ich mit ihm, nur sein gutes Aussehen, seine Muskeln und sein schönes Lächeln störten mich ein wenig (Neid). Na ja, sicherlich hat er einen schlechten Charakter dachte ich mir, aber auch hier war ich auf dem Holzweg.

Vor uns saß allein ein etwas älterer Schüler. Es war sicherlich nicht seine erste Lehre. Ich war skeptisch. Kurze Zeit später drehte er sich um und lächelte uns zu. Auf das Lächeln folgten die ersten Worte, wieder Smalltalk. Ein mir komplett fremder Mann sprach uns an, ich wurde rot. Sven antwortete ihm komplett lässig, als würde er ihn schon lange kennen, was aber nicht der Fall war. Bisher war ich immer sehr scheu Fremden gegenüber. Eigentlich alles andere als perfekt, wenn man zukünftig mit Menschen arbeiten darf/muss. Nach einer Weile legte sich meine Aufregung. Ich merkte, dass er ein lustiger Zeitgenosse ist. Skeptisch blieb ich dennoch, zumindest vorerst.

Der erste Arbeitstag im Einzelhandel und andere Vorkommnisse

Nachdem der erste Blockunterricht in der Schule beendet war, ging es in meine Ausbildungsstätte. Ein riesengroßer Baumarkt, gefüllt mit Waren, die ich in meinem Leben noch nie gesehen hatte. Blumen, Maschinen und Werkzeuge säumten mir den Weg. Ich sollte in jeder Abteilung für eine gewisse Zeit für die kommenden 3 Jahre arbeiten und mich natürlich auch bestens auskennen. Ich blickte auf unzählige neue Gesichter, die mich genauso fragend anschauten wie ich sie. Dabei wurde ich von dem damaligen Marktleiter durch die einzelnen Bereiche geführt und vorgestellt. So viele Menschen und noch mehr Eindrücke. Mein Herz raste und ich fragte mich abermals, ob ich der Aufgabe gewachsen bin.

Fachberatung „Farben und Lacke“, Fachberatung „Holz“, Fachberatung, Fachberatung, Fachberatung. Überall gab es zentrale Anlaufpunkte für Kunden, die eine Beratung wollten. Der Marktleiter wies mich darauf hin, dass dies nicht nur ein Baumarkt ist, in dem der Kunde seine Ware kauft. Sondern, dass hier der Kunde an höchster Stelle steht und dass auch ich auf jede Frage in ferner Zukunft eine Antwort haben sollte. Diese Aussage fand ich zwar gut für den Kunden, aber wie soll man sich bei 40.000 Artikeln und mehr nur so gut auskennen? Ein Rätsel, auf das ich später teilweise eine Lösung hatte.

Als Erstes war ich in der Abteilung „Holz“. Der Umgangston war hier etwas härter als in anderen Abteilungen. Auch die Kollegen waren hier etwas kerniger gebaut wie ich. Die Mitarbeiter hier waren alle sehr lustig und der eine oder andere Witz ging auch gern mal unter die Gürtellinie. Einige Mitarbeiter in der Abteilung waren zu den Kunden nett und als sie weg waren, hörte man nur leise „Arschloch“. Andere Mitarbeiter wiederum sagten den Kunden ihre Meinung über sie direkt ins Gesicht. Dazu zählten Aussagen wie: „Ach wissen Sie, meiner Meinung nach gehören alle Frauen in einen Sack und ab in die Mulde“. Aber es gab auch die Mitarbeiter, die wirklich zu allen und jedem freundlich waren und sich regelrecht den Arsch aufgerissen haben. Sie erledigten Arbeiten auch für die, die sich gefühlt mehr im Wareneingang, weg von all der Arbeit und Kunden, aufgehalten haben.

Leider musste ich aber feststellen, dass die Arschloch-Mitarbeiter besser um die Runden kamen, erholter aussahen und oftmals auch ein tolleres Ansehen hatten als die, die wirklich 100 % gegeben haben. Sollte mir das zu denken geben? 

Ich selbst durfte oft die Arbeiten machen, die die anderen nicht wollten. Der Spruch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ versehen mit einem Lächeln, hörte ich sehr oft. Auch ich nutze diesen immer noch, wenn in meiner jetzigen Firma die Lehrlinge zum Essen holen geschickt werden.

Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, dass alles schlecht war. Auf keinen Fall! Ich hatte sehr viel Spaß mit meinen Kollegen. Wenn man einmal weiß, wie jeder Einzelne so tickt, konnte man mit den meisten gut arbeiten und auskommen.

Andere Abteilungen hatten dann wieder andere extreme Beispiele. Eine Mitarbeiterin wurde tagtäglich von ihren Kollegen gemobbt und mit Arbeit bombardiert, sie machte in den Augen der anderen alles falsch. Ich sah sie oft weinend hinter dem Tresen mit der Aufschrift „Fachberatung Farben und Lacke“ stehen. Sie tat mir einfach nur leid. Jetzt, ca. 20 Jahre später, ist sie immer noch in dem Markt, nur in einer anderen Abteilung. An ihrem Blick und an den feuchten Augen hat sich bis heute nichts geändert.

Dann gab es noch die Fremdgänger-Fraktion. Jeder wusste, dass der eine mit der anderen was hatte, sich hinter den Regalen oder auch nach der Arbeit trafen, obwohl Zuhause der lieb sorgende Ehemann oder die ahnungslose Ehefrau wartete.

Vorurteile über Vorurteile

Was ich nicht wusste, war, dass halbjährlich wir Auszubildenden zu einer internen Schulung in der Nähe von Bielefeld, ca. 450 km von meinem Heimatort entfernt, mussten. Ein eigenes Auto oder Motorrad hatte ich nicht. Mit dem Zug fahren wollte ich nicht. Also haben mich meine lieben Eltern jedes Mal mit dem Auto dahingefahren. Für sie waren es fast 1000 km an einem Stück, bis sie wieder zu Hause angekommen sind und mich nach einer Woche und abermals 1000 km wieder abgeholt haben.

Die alten Bundesländer kannte ich damals noch nicht. Ich war noch nie da. Ich erwartete wunderschöne Häuser mit gepflegten Vorgärten, Einkaufsmöglichkeiten mit Dingen, die ich bisher noch nicht gesehen habe und nette Menschen, die mich mit offenen Armen empfangen. Wir waren doch jetzt eins, ein großer Staat in Einigkeit.

Die Realität sah leider anders aus. Ein abgewracktes Dorf, irgendwo im Nirgendwo, weit weg von einer Stadt mit Möglichkeiten. Noch nicht mal Geschäfte gab es hier. Keinen Bäcker, keinen Fleischer, noch nicht mal Getränke konnte ich hier kaufen. Ich war schockiert. Die Häuser waren trist und grau, die Vorgärten, wenn vorhanden, waren mit Müll zugestellt oder einfach nur ungepflegt. Menschen hatte ich hier auf den Wegen nur selten gesehen und wenn, dann nur sehr alte. Und das sollte der goldene Westen sein? Ich war enttäuscht und mein Weltbild leicht zerstört.

Sicherlich ist das nur eine Ausnahme, dachte ich. Viel wichtiger war es mir aber, dass die anderen Mitstreiter in meiner Gruppe nett und aufgeschlossen sind. Sie sind sicherlich alle in etwa in meinem Alter und ganz bestimmt nicht voreingenommen. Wir sind ja jetzt eins.

Wir trafen uns am nächsten Tag zu unserer ersten Schulung, genau gesagt war das eine Vorstellungsrunde. Jeder musste kurz erzählen, wie er heißt, wo er herkommt, warum er sich für diese Ausbildung entschieden hat und was er sich von der kommenden Woche erhofft. Ich war fast der letzte in der Runde und konnte mir somit anhören, was die anderen sagen.

Diese Sprache, so fein und klar, diese Wortgewandtheit jedes Einzelnen. Alle waren voll motiviert und überzeugt von sich, fast schon überheblich und dann war ich an der Reihe:

„Guddn Daaaach, mei Name is Andreas, isch gomme aus Döbeln das liescht in Sachsn“

Und so weiter und so weiter…

Schon nach den ersten 2 Worten merkte ich, dass der Fokus komplett auf mir lag. Man hätte eine Nadel zu Boden fallen hören. Einige schauten mich an, andere nach unten. Eines hatten aber fast alle gemeinsam, sie lachten. Man kann sich nicht vorstellen, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe oder vielleicht doch?

Ich kam mir vor wie in einem Film, alle gegen einen. Leider war ich der eine. Direkt am selben Tag in der Mittagspause löste sich ein Junge von seinen vermeintlich neuen Freunden am Tisch und kam zu mir. Er knallte mir eine Banane auf den Tisch und sagte: „Hier für dich. Das ist eine Banane, kannst essen. Habt ihr ja da drüben nicht“. In diesem Moment wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Als wäre das nicht genug gewesen, fragte er mich noch, ob wir nur deshalb Trabis fahren, weil unsere Straßen so schlecht sind oder ob wir uns im Osten einfach keine anderen Autos leisten können. Ich schaute einfach nach unten und sagte nichts. Was hätte ich auch antworten sollen? Egal was ich gesagt hätte, es wäre eh nur zur Belustigung der anderen gewesen.

Da sich die Mädels aber aus der ganzen Ost-West-Kacke rausgehalten haben und mich als Mensch akzeptiert hatten, hielt ich mich lieber an sie.

Irgendwann ist aber auch die schlimmste Woche vorbei und es ging nach Hause. Bei den nächsten Schulungen in Bielefeld war ich dann nur noch ein weiteres Mal dabei, entweder sind sie ausgefallen oder ich war krank.

Erweitertes Fazit

Die 3 Jahre in „meinem“ Baumarkt vergingen dennoch wie im Flug. Es machte mir Spaß, mit dem gelernten Wissen anderen Kunden helfen und beraten zu können. Am besten hat es mir in der Abteilung „Farben und Lacke“ gefallen. Die Kollegen waren super drauf und das Sortiment hatte es mir angetan. Und genau deshalb habe ich auch zum Ende meiner Lehre zu diesem Thema meine praktische Prüfung abgelegt. Ich hatte mich gut vorbereitet und mir einen Plan gemacht. Der Prüfer aber, der gerade privat sein Haus umbauen und vieles selbst machen wollte, nutzte die Gelegenheit, um mich zum Thema auszuquetschen. Nach einer halben Stunde in etwa wusste er durch mich genau, was er benötigt und ich hatte meine 1. Danke nochmal dafür Herr Prüfer (er hieß natürlich nicht Prüfer, sondern war einer).

In meiner Berufsschulklasse fühlte ich mich nach einer gewissen Zeit auch komplett pudelwohl. Die meisten von den Jugendlichen waren auf einer Wellenlänge und alle ordentlich. Auch unsere Lehrer waren richtig dufte.  Der Typ mit den Muskeln, dem geilen Lächeln und der tollen Ausstrahlung und der etwas ältere Typ wurden meine besten Freunde. Wir hingen fast jeden Tag aufeinander und unternahmen viel zusammen. Bis jeder von uns eine Freundin hatte. Danach ging der eine und machte sein eigenes Sex-Callcenter auf und der andere wurde Möbelverkäufer. Ich selbst wechselte nach meiner Lehre aus dem Baumarkt in das angeschlossene Warenhaus.

Mit dem Wissen von jetzt würde ich so gern nochmal diesen Menschen mit der Banane treffen. JETZT wüsste ich genau, was ich ihm sage. Und wieder würde ich die Uhr nur zu gern zurückdrehen. Ich würde so einiges anders machen. Warum müssen Menschen nur so gehässig zueinander sein? Haben wir nicht genug andere Probleme, bei denen es sich lohnt dagegen anzukämpfen? Nur weil wir Sachsen einen anderen Dialekt als andere haben und dieser nicht gerade dem Hochdeutschen ähnelt, heißt es nicht, dass wir dumm sind.

Gerade eben habe ich einen schönen sächsischen Spruch gelesen, der wunderbar als Abschluss für diesen Beitrag passt. Für alle, die ihn nicht verstehen, fragt mich, ich werde ihn euch gern übersetzen:

Mir sinn gluuch, dischdsch, lusdsch, schibbsch, gudmiedsch, ooch manschema e weng einfelltsch, nur ens simmor ni: DEHMLISCH!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert